Der das scheue Reh schlachten will
Der Kabarettist Georg Schramm hat Deutschlands bekanntesten Kapitalismuskritiker geschaffen

Er merkt am Lachen, dass sich etwas geändert hat im Land. Wie es in den Menschen gluckst, sich schließlich Bahn bricht und in einen Urknall mündet. Da kommt etwas von ganz innen. Und es hört sich an wie eine Befreiung. In den Vorstellungen von Georg Schramm wird anders gelacht als bei seinen Kollegen aus der Riege der politischen Kabarettisten: "Mir fällt auf, was für ein Druck in den Leuten ist, dass sie so lachen."
Schramms Worte öffnen das Ventil. Radikal wie wohl sonst keine andere öffentliche Person artikuliert er sein Unbehagen am Deutschland des Jahres 2005 mit seinen ökonomischen Zwängen und Nöten. Gleich zu Beginn des Programms, mit dem er derzeit durch die Republik tourt, kommt Schramm auf "das Kapital, das scheue Reh" zu sprechen. Und während die politischen Eliten es nicht erschrecken oder gar mit garstigem Sozialklimbim verjagen wollen, schlägt der 55-Jährige etwas anderes vor: "Man könnte es auch schlachten." So wird SPD-Chef Franz Müntefering in Sachen Kapitalismuskritik nebenbei zum blutigen Anfänger gestempelt. Hartz IV bezeichnet Schramm als "Menschenopfer für Wachstum".
So spricht aber nicht Georg Schramm selbst, sondern sein Alter Ego Lothar Dombrowski, ein verbitterter Preuße mit zurückgegelten Haaren, Hornbrille und Kriegsverletzung, die ihn seine Hand stets eng am Körper tragen lässt. Der Lederhandschuh ist Dombrowskis Markenzeichen. Wenn er einmal im Monat im "Scheibenwischer" den Schlussmonolog hält, wissen die Zuschauer, dass er dem Politikbetrieb den Prozess macht.
Das ist schwer vorstellbar, wenn man Schramm nach diesem Gastspiel in Karlsruhe abseits der Bühne erlebt. Er ist höflich und fällt seinem Gegenüber nie ins Wort. Die blauen Augen konzentrieren sich auf den Gesprächspartner, der sich auch dadurch ernst genommen fühlt, weil Schramm keine Phrasen drischt. Er erzählt, wie müde er ist, obwohl er die Zahl seiner Auftritte schon reduziert. Er verhehlt nicht, dass der Alkohol ihm immer wieder gefährlich wird, und erinnert sich, während er Kaffee schlürft, selbstironisch an seine demütigendste Niederlage als Vereinstischtennisspieler. Aber wenn das Scheinwerferlicht angeht, wird der zurückhaltende Familienvater zum Tier.

Vor allem wenn es um sein Lieblingsthema geht - das Gesundheitssystem. Dessen explodierende Kosten hätten vor allem mit der Korruption von Ärzteschaft und Pharmaindustrie zu tun. Zwanzig Milliarden Euro Steuerzahlergeld koste das, dieselbe Summe werde für unnötige Medikamente ausgegeben, die nur auf dem Markt seien, um der Branche saftige Profite zu bescheren. Deswegen brauche man mehr Geld vom Bürger: "Wir werden systematisch ausgeplündert und betrogen." Das ist dann einer dieser Augenblicke, in denen das Publikum nicht lacht, sondern sich fragt, ob das stimmen kann oder der Mann dort oben auf der Bühne wahnsinnig sei. Georg Schramm kalkuliert das natürlich ein, holt einen Zettel aus dem Revers seines Sakkos und zitiert genüsslich aus dem Bericht einer Sonderkommission des Bundeskriminalamts: "Unser Gesundheitssystem ist systematisch korrupt und in den Händen der organisierten Kriminalität."
Mit der Kritik am Krankheits-Business hat für Schramm alles angefangen. Mitte der achtziger Jahre hielt er die Laudatio auf einen Kollegen in der Reha-Klinik am Bodensee, in der Schramm zwölf Jahre als Psychologe arbeitete. Eine Konstanzer Theatergruppe fragte ihn danach, ob er nicht mitspielen wolle - Schramms zweite Karriere als Kleinkünstler begann. Die andere Option, ein Leben als Politiker, war für ihn keine echte Alternative. Die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr bot dem Konstanzer Betriebsrat einen Geschäftsführerposten in der Stuttgarter Zentrale an. Er schlug aus. Dem Freigeist war die Vorstellung zuwider, in Ausschusssitzungen im Bonner Gesundheitsministerium immer die offizielle Gewerkschaftsmeinung vertreten zu müssen.

Heute kann er sagen, was er will, und macht von diesem Recht mehr Gebrauch als sonst einer. Wenn die Redaktion des Bayerischen Rundfunks kalte Füße bekommt, muss Schramm die Quellen seiner Aussagen belegen, ehe er auf Sendung darf. Die Fernsehbosse lassen es auch durchgehen, wenn Schramm auf ihre Frage, ob er denn gerade jetzt, so kurz nach dem Tsunami, die Flutkatastrophe in Südostasien behandeln müsse, nur antwortet: "Gerade jetzt!" Dass es "keine Zensurversuche" gibt, liegt ihm zufolge am fairen Umgang miteinander. Dazu gehört, dass in der Live-Sendung kein anderer Text gesprochen wird als in der Generalprobe. Der Sender wusste also bereits, was Herr Dombrowski über die nationale Katastrophe mit hunderten von deutschen Flutopfern sagen würde: "Wissen Sie, was eine nationale Katastrophe wäre? Wenn die über 100 000 Pflegebedürftigen in den deutschen Heimen, die mit offenen Geschwüren herumliegen, weil das Personal fehlt, um sie einmal in der Stunde umzudrehen, alle gleichzeitig um Hilfe schreien würden. Das wäre eine nationale Katastrophe."
Solcher Sätze wegen hat ihn der Wiener "Standard" einmal zu "Deutschlands gemeinstem Kabarettisten" gekürt, was in dieser Branche als Lob gilt. Und natürlich kann auch nur jemand seine Zuschauer zur Bildung einer "Widerstandsfront" auffordern, wenn ein ordentliches Maß an Wut und Verzweiflung in ihm ist - "dieser Eifer, den Leuten etwas mitzuteilen", wie er selbst sagt. Darum gibt es bei ihm nicht die üblichen Schröder-, Fischer- oder Merkel-Kalauer zu hören - diese Repräsentanten kommen nur am Rand vor: "Das sind politische Hampelmänner, die uns auf der Bühne der Berliner Puppenkiste Demokratie vorspielen dürfen." Weil seiner Meinung nach die eigentlichen Machthaber die Interessenverbände sind und "der Urnenpöbel alle vier Jahre zur Schlachtbank geführt wird", macht Schramm, wie er sagt, "systemkritisches Kabarett". Einen Lieblingsfeind hat der bei Freiburg lebende Satiriker aber: Horst Köhler, den Bundespräsidenten, der gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West fordert. Die seien doch längst Realität, höhnt Schramm. Wie ein Mathematiklehrer rechnet er an der Tafel vor, wie sich die Geldvermögen in den ärmsten und reichsten Bevölkerungsvierteln seit der Wiedervereinigung verändert haben: die Armen im Osten haben ein wenig verloren, die im Westen viel: "Reich und reich, arm und arm - da wächst doch zusammen, was zusammengehört."

Den Gerechtigkeitssinn hat er von den Eltern. Der Vater war Lastwagenfahrer und wie die Mutter sozialdemokratisch geprägt. Gewohnt hat die Familie in Bad Homburg, dem Villenviertel von Frankfurt, wo auch die Quandts und Herrhausens residierten. Aber natürlich nicht wie jene in einer Villa. "In meiner Klasse", erinnert er sich, "war ich das einzige Arbeiterkind." Das hat ihn genauso geprägt wie die Tatsache, dass die Mutter lange mit dem Vater streiten musste, ehe er als Proletariersohn aufs Gymnasium gehen durfte. Ausgrenzung finde heute nur anders statt, meint er und hat dabei die Diskussionen in der Schule seines Sohnes aus zweiter Ehe um die teuren Klassenfahrten im Sinn: "Kinder wie ich früher werden ausgeschlossen von so etwas."

Dem verstorbenen Vater hat er mit der Bühnenfigur August ein Denkmal gesetzt. Dessen Urkunde für 25-jährige Mitgliedschaft in der SPD ist stets mit auf der Bühne. Breit hessisch babbelnd gewährt er dem Publikum Einblick in die Psyche eines einfach gestrickten Menschen, der nicht mehr versteht, was um ihn herum passiert. "Politik war mein Leben", sagt August, "aber in der Zeitung stehen nur noch Börsenkurse." Nun meint man, auch im Publikum feuchte Augen zu sehen, aber Schramm wäre nicht Schramm, wenn er nicht sofort von todtraurig zu mordslustig wechseln würde: Augusts Plan, die "Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokraten in der SPD" zu gründen, erntet regelmäßig die größten Brüller.

Die dominante Figur bleibt aber Lothar Dombrowski, dessen hanseatische Attitüde sich Schramm als Kind beim Ohnsorg-Theater-Schauen angeeignet hat. Mit Vergnügen bohrt der seine Finger in die Wunden, die der entfesselte Kapitalismus hinterlässt. Kreiert hat Schramm diesen verbitterten Mann, der am Ende des Programms sogar eine Pistole auspackt, um die Schuldigen an der Misere im Lande zu richten, schon vor Jahren. Alles sollte überzeichnet sein. Diese unkontrollierte Wut und das Derbe sollten die Figur zum unsympathischen Kotzbrocken werden lassen. Auch die Passage mit Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, dessen Ermordung der verzweifelte Dombrowski erwägt, gehörte ins Reich der kranken Fantasien. Aber es kam anders: Das Publikum vergöttert diesen Dombrowski, die Vorstellungen sind ausverkauft, und die ARD-Quotenstatistik lehrt, dass sein Schlussmonolog die höchsten EInschaltquoten hat. Dass da einer abrechnet, versetzt das Auditorium in Entzücken: "Manchmal schreien die Menschen ,Ackermann', noch bevor ich etwas gesagt habe." Das macht ihm schon ein wenig Angst, gibt er zu: "Ich habe die Stimmung im Land unterschätzt und bin schon überrascht, wie real Lothar Dombrowski geworden ist."

Christopher Ziedler
Stuttgarter Zeitung | 25.6.2005